Offensive der deutschen Kinderrechtsbewegung für den Frieden zwischen den Generationen
Eine belanglose, doch auch aufschlußreiche Zeitungsmeldung:
„Montreal. (ppl) –Kleinkinder möchten am
liebsten eine Katze sein, Neun- bis Zehnjährige wären gern ein Vogel, ein Löwe,
ein Bär, ein Adler oder ein anderes wildes Tier. Aber ein Hund will niemand
sein, obwohl die Hunde nach den Katzen die bevorzugten Tiere von Schulkindern
sind. An dritter Stelle steht das Pferd. Wellensittiche und andere Vögel,
Goldfische und Hamster nehmen in der Skala der Lieblingstiere die
nächstfolgenden Plätze ein. Das hat eine französisch-kanadische Studie über das
Verhalten der Kinder im Alter von sechs bis vierzehn Jahren gegenüber Tieren ergeben.
Nach den Gründen befragt, warum die Kinder gern eine Katze, keinesfalls aber
ein Hund sein würden, erklärten sie durchweg, eine Katze könne immer spielen,
ein Hund aber müsse gehorchen.“ (Wiesbadener Tagblatt, 12. 10. 1983)
Kommentar und Konsequenz: Offensichtlich
ziehen Kinder das Spielen dem Gehorchen vor. Doch die hier Befragten haben
bereits eine adultistische (erwachsenenzentrierte) Sichtweite angenommen. Der
Unterschied zwischen „könne“ und „müsse“ verrät, daß sie nicht die
(instinktiven) Eigenarten der Tiere als ihr Verhalten primär steuernd ansehen,
sondern die unterschiedliche „Großzügigkeit“ ihrer Besitzer. Die Kinder
verkennen, in welch starkem Maße Tierhalter davon abhängig sind, was Tiere sich
– da es ihnen instinktiv „gefällt“ – gefallen lassen. Man könnte sagen:
„Hündische“ Tiere fordern den Menschen zu Erziehungsakten heraus.
„Katzige“ Tiere dagegen „ertrotzen“ sich Freiräume, „erkämpfen“
sich Toleranz und Achtung.
Zweifellos werden auch die Beziehungen zwischen Erwachsenen
und Kindern von beiden Seite mitbestimmt und mitgestaltet. Kinder sind nicht
willenlose Objekte adultistischer Befehlsgelüste. Sie können „katzig“
sein, stolz, freiheitsbewußt – wenn sie nicht glauben, sie „müßten“
hündisch leben.
Eine rasch wachsende Zahl von Menschen sieht in dem
automatischen Gehorsam, wie er Kindern nahegelegt wird, denen man einredet, sie
„müßten“ gehorchen, keine Tugend mehr, sondern eine gefährliche, im
Zeichen der atomaren Aufrüstung der Gehorsamsforderer global lebensgefährliche
Irreführung.
Im Namen zahlreicher Kinder und Kinderrechtler stellt eine
Initiatorengruppe (s. Schluß) die Erwachsenenwelt jetzt vor die Wahl: Entweder
hören Gesetzgeber und „Erzieher“ auf, Kinder wie Hunde anzusehen und zu
behandeln, oder wir sagen den Kindern, daß sie sich wie Katzen benehmen
„müssen“, wenn sie wie Katzen leben wollen. Entweder akzeptieren die
Erwachsenen Kinder als Menschen mit Würde und Freiheitsrechten wie andere auch,
oder die Kinder werden sich die Freiheit nehmen, frei zu sein. Notfalls gegen
den Widerstand uneinsichtiger „Hunde-Liebhaber“. (Sogar wohlerzogene Hunde
können bei Gelegenheit bissig werden. Wer nicht hören will …)
Danksagung und Widmung
Wir, die Initiatoren des Kinder-Doppelbeschlusses, sind
unseren freiheitsbewußten Vorfahren und
den antifaschistischen Alliierten gegen Hitlerdeutschland
dankbar, daß sie uns durch ihre blutigen Kämpfe gegen freiheitsfeindliche Obrigkeiten
und deren pflichtbewußte Mittäter und
Untertanen die Möglichkeit geschaffen haben, in einer freiheitlichen,
demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft ihr Werk mit unblutigen
Mitteln fortzusetzen.
Wir
widmen unserer Initiative ihrem Andenken.
Definition und Ziel
Der Kinder-Doppelbeschluß betrifft den Generationenkonflikt
(„Altersklassenkampf“, „Erziehungskrieg“), wie der NATO-Doppelbeschluß den
Ost-WestKonflikt („Weltherrschaftsstreben“, „Raketenmonopol“) betrifft.
Um Bundesregierung und Bundestag, an die er sich richtet,
entgegenzukommen, geht er von der dort mehrheitlich vertretenen Position aus
und folgt in strenger Analogie der offiziell vorherrschenden friedenspolitischen
Argumentationslogik. Wir wählen die Strategie des Doppelbeschlusses also nicht,
weil wir sie besonders genial oder anständig finden, sondern weil es die zur
Zeit gängige Vorgehensweise der Regierenden ist, deren Vorbild wir uns im
Interesse der Sache trotz erheblicher Bedenken anschließen.
Der Kinder-Doppelbeschluß fordert die Erwachsenen zur Abrüstung auf (1. Teil), andernfalls die
Kinder und jugendlichen – leider Gottes – zur „Nachrüstung“ gezwungen sind (2. Teil). Der 2. Teil ist
selbstverständlich keine Erpressung oder Nötigung, sondern dient lediglich
dazu, den nötigen Druck auszuüben, damit die geforderten Verhandlungen
aufgenommen werden und zu einem im Sinne des 1. Teiles erfolgreichen Ergebnis
führen können. In dem Maße, in dem sich die älteren Generationen (die
„Mehrjährigen") bewegen, können die jüngeren Generationen (die
„Minderjährigen") auf Gegenmaßnahmen verzichten.
Der Kinder-Doppelbeschluß verfolgt das Ziel, zwischen den
Generationen Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen. Er will das
Gleichgewicht der Kräfte sicherstellen (Sicherheitspartnerschaft), weil er
Unterwürfigkeit, weitere einseitige Vorleistungen und verantwortungslosen
Pazifismus für gefährlich hält. Sein Ziel ist der Frieden, doch nicht Frieden
um jeden Preis, sondern Frieden in Freiheit und auf der Basis von
Gerechtigkeit.
I. Inhalt
1. Teil:
Die deutsche Kinderrechtsbewegung bietet dem Gesetzgeber der
Bundesrepublik Deutschland Verhandlungen über den Abbau der rechtlichen
Vorherrschaft der Erwachsenen an mit dem Ziel, die gesetzliche Gleichberechtigung
der Generationen zu erreichen. Nach und nach sollen alle objektiv kinderfeindlichen
Gesetze dahingehend reformiert werden, daß Kinder und Jugendliche uneingeschränkt
und konkret in den Genuß der anerkannten Grund- und Menschenrechte gelangen.
Als ersten und dringendsten Schritt in diese Richtung
verlangt die Kinderrechtsbewegung vom Gesetzgeber, gewalttätigen Eltern die
staatliche Lizenz zu entziehen und klarzustellen, daß die „Erziehungspflicht“
des Grundgesetzes keinen Auftrag an die Eltern beinhaltet, ihre Kinder notfalls
mit Gewalt zur Unterordnung zu bringen.
Als weitere Schritte, für die wir gegenwärtig jedoch noch
keine Fristen setzen, ist die Gleichberechtigung des Kindes im Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland zu verankern(„Männer, Frauen und Kinder sind gleichberechtigt“,
„Niemand darf wegen … seines Alters … benachteiligt oder bevorzugt werden“) und
sind die übrigen Forderungen der Kinderrechtsbewegung (z. B. Abschaffung von
Jugendgefängnissen und Erziehungsheimen, Einführung des Rechts auf freie
Bildung anstelle der Schulpflicht, Einführung des Wahlrechts ohne
Altersbeschränkung, prinzipiell: gesetzliche Sicherung des Selbstbestimmungsrechtes
aller Menschen) vom Gesetzgeber als berechtigte anzuerkennen und mit geeigneten
Mitteln politisch zu verwirklichen.
Für die Verhandlungen über den 1. Teil des
Kinder-Doppelbeschlusses setzt sich die Kinderrechtsbewegung eine Frist von 9
(neun) Monaten.
2. Teil:
Sollte bis Oktober 1984 der Gesetzgeber nicht ernsthaft mit
dem Abbau des Faustrechts der Erwachsenen begonnen haben, werden die Kinder,
Jugendlichen und Erwachsenen der deutschen Kinderrechtsbewegung sowie andere
friedliebende, freiheitlich gesinnte, konsequent demokratisch und gerecht
denkende Menschen Gegenmaßnahmen ergreifen und den bisherigen Opfern
adultistischer Gewalt und Erpressung die zur wirkungsvollen Notwehr
erforderlichen Kenntnisse zur Verfügung stellen und damit den gegenwärtigen
Zustand der Verwirrung beseitigen, der sie in ohnmächtiger Angst, depressiver
Einschüchterung, notgedrungener Fügsamkeit, jedenfalls bewußt- und hilfloser
Unfreiheit hält. Das heißt, wir werden Kindern und Jugendlichen einige der
zentralen und bestgehüteten Geheimnisse der Erwachsenenwelt preisgeben, auf
denen das gesetzlich abgesicherte adultistische Machtmonopol beruht.
Durch diese – selbstverständlich nur mit unzweifelhaft
legalen Mitteln durchzuführenden –Enthüllungen werden wir der
Publik-Forum-Sonderdruck heutigen erziehungsideologischen Hochrüstung der
Erwachsenen das notwendige Gegengewicht entgegenstellen und ihren Objekten (den
„Zöglingen") die erforderlichen Mittel zu ihrem erfolgreichen Widerstand
in die Hand geben.
Das Ergebnis würde sein (immer nur: falls wir zur Realisierung
dieses 2. Teils gezwungen würden – wir sind keinesfalls „raketensüchtig"),
daß Kinder und Jugendliche das Bewußtsein ihrer realen Macht, ja partiellen
Überlegenheit erhielten und sich Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Frieden
gegen ihre Unterdrücker erkämpfen könnten – wobei die Gefahr, daß dieser Kampf
auf beiden Seiten einen hohen Preis fordert, nicht auszuschließen wäre.
Wir sind daher sicher, daß Bundesregierung und Parlament
durch diese Aussicht veranlaßt werden können, Einsicht zu zeigen und allen
Beteiligten diese unnötige und mit unvorhersehbaren Risiken verbundene
Konfrontation zu ersparen.
II.
Begründung
Initiatoren und Unterstützer des KinderDoppelbeschlusses
fühlen sich dem modernen, vorbeugenden Kinderschutz verpflichtet. Dieser folgt
der Anregung des kalifornischen Psychologen Richard Farson aus seinem Buch
„Menschenrechte für Kinder – Die letzte Minderheit“ (deutsch 1975):
„Wir
sollten umdenken und nicht mehr die Kinder, sondern ihre Rechteschützen.“ (S.
115)
Dieses Umdenken stellt nicht eine bloße strategische
Variante dar, sondern ist die Konsequenz aus einem grundsätzlich anderen
Menschenbild. Während der traditionelle Kinderschutz zu vermehrter Kontrolle
und damit letztlich Bevormundung, Unterdrückung, Freiheitsberaubung tendierte,
weil er das Kind als zur Selbstbestimmung unfähiges und daher
erziehungsbedürftiges Objekt erwachsener Wunsch und Angstvorstellungen ansah,
betrachtet der heutige Kinderschutz das Kind als von Anfang an
selbstbestimmendes, innengeleitetes Subjekt, das selbst am besten weiß oder fühlt,
was es braucht und will. Obgleich dieses Menschenbild nicht wirklich neu ist
(vgl. H. R. Weber, „Jesus und die Kinder“), darf man es doch so nennen, weil es
erst seit relativ wenigen Jahren wissenschaftlich schlüssig bewiesen ist und
dort, wo es diskutiert wird, breite Anerkennung findet. (Ein Beispiel für
viele: Noch 1976 empfahlen fast sämtliche Kinderärzte die Säuglingsfütterung nach
der Uhr, also entsprechend der äußeren Ordnung einer Maschine, während heute
die große Mehrheit von ihnen das Wissen um die „Körpervernunft" oder
„organismische Weisheit“ auch schon des Säuglings verbreitet, dessen
Eigenrhythmus und innere Ordnung der bessere Ratgeber ist.)
Kinderschützer wurden zu Kinderrechtlern, weil sie zur
Kenntnis nahmen, daß das alte Menschenbild objektiv falsch, das neue objektiv
richtig ist. Das heißt, alle Argumente, die für das alte zu sprechen schienen,
sind inzwischen widerlegt, und umgekehrt können sämtliche Erfahrungen der
Menschheitsgeschichte widerspruchsfrei im Sinne des neuen interpretiert werden.
Daraus folgt, daß die Idee, Kindern Sicherheit und Schutz auf Kosten ihrer
Freiheit verschaffen zu wollen, aufgegeben wurde. Stattdessen trat die Idee in
den Vordergrund, die in jahrhundertelangen und oft blutigen Freiheitskämpfen in
demokratischen Staaten für Erwachsene durchgesetzten Menschen- und Bürgerrechte
auch Kindern einzuräumen. In ihrem Standardwerk „Kindesmißhandlung“ (deutsch
1980) schreiben Ruth und Henry Kempe:
„Eine radikale, aber wirksame Maßnahme zur
Erhöhung der Sicherheit der Kinder bestünde darin, sie zu Vollbürgern mit allen
Rechten … zu machen.“ (S. 164)
Denn was zwischen Erwachsenen und auch Völkern (deren
Selbstbestimmungsrecht ihr anerkannt heiligstes Gut ist) für die größtmögliche
Sicherheit aller, für gewaltlose Konfliktbewältigung,
für Gerechtigkeit und Frieden zu sorgen geeignet ist: das Prinzip der Nichteinmischung
in die inneren Angelegenheiten anderer, die Toleranz für das Anderssein des
anderen, der Respekt vor der Würde des anderen, der Verzicht, andere zu ihrem
Glück zwingen zu wollen, kurz, die Anerkennung der Menschenrechte aller Menschen
unabhängig von ihren Fähigkeiten, Eigenarten, auch Unzulänglichkeiten – dies
alles steht Kindern ebenso zu, ist in Bezug auf Kinder ebenso vernünftig,
hilfreich, notwendig. Kinder und Jugendliche sind Menschen. An dieser Aussage
sind keine Abstriche möglich. (Wer Abstriche an ihr versuchte, würde sich zu
Recht mindestens den Hitlergruß einhandeln. Vgl. über den faschistischen
Hintergrund des erziehungsideologischen Denkens: H. Kupffer, „Erziehung – Angriff
auf die Freiheit“.)
Daß Kindern und Jugendlichen die Menschenrechte trotzdem
noch immer weitgehend vorenthalten werden, ist als logische Folge des alten
Menschenbildes leicht zu verstehen. Das freiheitliche und demokratische
Menschenbild ist, wie gesagt, relativ neu. Die Tradition des alten Menschenbildes
(Stichworte: Obrigkeit-Untertanen, Männerherrschaft-Frauenanpassung,
Erzieher-Zögling, Befehl-Gehorsam) – man könnte sie auch die patriarchalische/demagogische/pädagogische
Tradition nennen – wird mit allen ihren schrecklichen Konsequenzen erst seit
kurzem allgemeinverständlich durchschaubar gemacht (vgl. z. B. A. Miller, „Am
Anfang war Erziehung“, 1980; L. Fleischmann, „Dies ist nicht mein Land“, 1980;
H. Kipphardt, „Bruder Eichmann“, 1983).
Dieser Umstand kann Verständnis für die Täter der
Vergangenheit und Gegenwart wecken, nicht jedoch rechtfertigen, daß auch in
Zukunft ungezählte Menschen im Auftrage des Staates auf dem Altar der bösesten
aller Traditionen geopfert werden.
Mit einiger Anstrengung ist schnelle Abhilfe möglich.
Wir wollen, daß diese Anstrengung unternommen wird.
III. Aktuelle Problemlage
Gründlichere Analysen der gegenwärtigen Beziehungen zwischen
den Generationen, als sie in offiziellen Studien bisher vorgelegt wurden,
bestätigen übereinstimmend die Tendenz, daß sich die Menschen von dem alten
Menschenbild ab- und dem neuen Menschenbild zuwenden. Das von Richard Farson
geforderte „Umdenken“ ist in den informierteren Bevölkerungskreisen in vollem
Gange. Die von dem amerikanischen Psychohistoriker Lloyd deMause 1974 („Hört
ihr die Kinder weinen“, deutsch 1977) beschriebene Entwicklung (Evolution) der
veralteten „Beziehungsform Sozialisation“ zu der zeitgemäßen
„Beziehungsform Unterstützung“ (vgl. auch: H. von Schoenebeck „Unterstützen
statt erziehen“) war schon damals nicht als Forderung gemeint, sondern eine
Feststellung, Beobachtung. Immer mehr Menschen verstehen und verarbeiten auch
emotional die Erkenntnis, daß sie zwar selbst als Kinder noch mit der alten
Tradition belastet wurden, daß sie aber nicht wegen, sondern trotz dieser
Kindheitserfahrungen ein lebenswertes Leben führen und deshalb ihren heutigen
Kindern die entsprechenden Erfahrungen getrost ersparen können.
Auf der einen Seite gibt es in der Bundesrepublik immer mehr
Kinder, die in ihren Familien von Anfang an – oder nach einer Umstellungsperiode
– mit den Erwachsenen gleichberechtigt leben. (Die Betroffenen berichten
ausnahmslos und oft sehr eindrucksvoll von den positivsten Erfahrungen – vgl.
zuletzt: H. Häsing (Hg.), „Das Herz für Kinder klebt an den Autos – Eltern schreiben für Eltern vom Mut, sich zu
verändern“, Oktober 1983). Auf der anderen Seite gibt es in der Bundesrepublik
aber noch zahlreiche Kinder, in deren Familien nicht viel andere
Erziehungsvorstellungen herrschen als bei Hitlers und Eichmanns. Die beiden
Menschenbilder (inkl. zahlloser Zwischenformen und – oft je nach Situation
wechselnder – Mischungsverhältnisse) existieren also gegenwärtig in der Gesellschaft
nebeneinander und sind sogar in vielen Individuen gleichzeitig präsent: bei
Erwachsenen aus ihren Kindheits-, bei Kindern z. B. durch ihre
Schulerfahrungen. Der alte Konsens des Aberglaubens an das Heil jeweils von
oben und außen ist aufgelöst, ein neuer Konsens existentiell selbstbewußter und
positiv (aus innerer Kraft) denkender und fühlender Menschen aber noch
Zukunftsmusik.
Aus kinderrechtlicher Sicht kann diese Zeit des Übergangs
jedoch nicht einfach unter der Rubrik „Pluralistische Gesellschaft“ abgelegt werden.
Denn nicht nur unsere eigenen Kinder oder die Kinder von Leuten, die mehr oder
weniger zufällig mit kinderfreundlicher Literatur in Berührung kamen, sind
Menschen, sondern alle Kinder sind Menschen, sind von Anfang an soziale
Individuen, selbstbestimmend, aktiv anpassungs- und selbstkorrekturfähig, mit
eigenem Willen, vernünftigen Instinkten und der genetisch vererbten Erwartung,
von ihrer Umgebung positiv akzeptiert und nach Bedarf unterstützt zu werden
(vgl. bes.: J. Liedloff, „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück – Gegen die
Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit“, sowie: R. Riedl,
„Biologie der Erkenntnis – Die stammesgeschichtliche Grundlagen der Vernunft“).
Wenn diese dem alten Menschenbild unbekannten Erwartungen
der Kinder nur deshalb so oft enttäuscht würden, weil viele Eltern persönlich noch
in dessen Tradition verwurzelt sind, könnten Kinderrechtler zwar ihren Protest
anmelden (wie Menschenrechtler gegen Menschenrechtsverletzungen bei
Erwachsenenprotestieren), sie wären aber zu einer so energischen und
möglicherweise dramatischen Offensive wie dem Kinder-Doppelbeschluß nicht
legitimiert – einerseits wegen ihres Respekts vor dem Selbstbestimmungsrecht
der heutigen Erwachsenen, andererseits aus der Erkenntnis, daß man Kindern in
der Regel nicht auf Kosten ihrer Eltern nützen kann. Tatsächlich brauchen, ja
dürfen Kinderrechtler aber nicht darauf warten, bis der Übergang zur
allgemeinen Anerkennung und Verwirklichung des neuen Menschenbildes gelungen
ist. Denn bzgl. der Kinderfrage gibt es die erwähnte „Pluralistische
Gesellschaft“ nicht. Vielmehr werden alle geltenden Gesetze, die Kinder
betreffen, von der Tradition des alten Menschenbildes geprägt, sind objektiv
kinderfeindlich (auch: widernatürlich, unvernünftig, gotteslästerlich) und
verletzen eklatant die Elternrechte solcher
Erwachsener, die ihren Kindern ein Leben in Freiheit und Menschenwürde
ermöglichen wollen, anstatt hoffärtig ihrem Schöpfer ins Handwerk zu pfuschen.
Dieser Zustand ist unerträglich und durch nichts zu
rechtfertigen.
Der Kinderrechtsbewegung fehlte allerdings eine wirksame
Strategie, den Gesetzgeber (der auf ihre bisherigen Initiativen mit Ignoranz,
nicht selten sogar mit unverhohlenem Zynismus reagierte) wenigstens zur Kenntnisnahme
ihrer Argumente zu veranlassen.
Durch den Kinder-Doppelbeschluß wird die Kinderfrage zum Politikum. Die breite Diskussion, die er einleitet, wird die
größere Kraft der besseren Argumente erweisen.
Wir sind der sicheren Überzeugung, daß diese Diskussion die
Zeit des Übergangs abkürzen und viele Opfer, die er andernfalls noch kosten
würde, retten kann.
IV.
Die Rolle des Gesetzgebers
Parlamentarier und Regierungsvertreter, die mit der
Kinderfrage konfrontiert und zum Handeln aufgefordert wurden, äußerten oft, wir
dürften die Möglichkeiten des Gesetzgebers gerade in diesem Problembereich
nicht überschätzen. Unsere Ideen seien zwar interessant, aber umstritten. Man
könne sie nicht per Gesetz der Bevölkerung aufzwingen. Man dürfe nicht in die
Familien hineinregieren. Wenn es uns gelänge, die Mehrheit der Bürger von
unseren Ansichten zu überzeugen, folgten die gesetzlichen Konsequenzen
gewissermaßen von selbst. Fähigkeiten wie Liebe, Toleranz, Vertrauen und
dergleichen, so wünschenswert sie seien, ließen sich nicht auf dem
Verordnungsweg erzeugen.
Wir akzeptieren dieses Argument. Es wäre widersinnig, wenn
ausgerechnet Kinderrechtler die Meinung verträten, so persönliche, spontane,
multivalente, auf Freiheit und Flexibilität angewiesene Beziehungen wie die
zwischen Eltern und Kindern sollten oder könnten vom Staat gesetzlich vorgeschrieben
werden.
Wir ziehen aus diesem Argument allerdings die
entgegengesetzte Konsequenz. Wir weisen darauf hin, daß es den Gesetzgeber in
Wirklichkeit zum Handeln zwingt. Wenn
der Staat nämlich nicht in die Familien hineinregieren darf, dann muß er es
lassen. Er muß also Gesetze aufheben oder reformieren, mit denen er genau das
tut, wozu ihn das genannte Argument für inkompetent erklärt. Indem die
bestehende Rechtslage die Gültigkeit des alten Menschenbildes festschreibt,
verhindert sie, daß die Menschen, die das wollen, aus ihrer Anerkennung des
neuen Menschenbildes Konsequenzen ziehen können, die über den rein privaten
Umgangsstil hinausgehen. Und auch dieser wird häufig vergiftet durch die
enggezogenen institutionellen Grenzen, die das Gesetz den objektiv
kinderfreundlichen Erwachsenen in vielen Bereichen steckt. (Ein Beispiel für
viele: Seit Jahrzehnten erprobte und bewährte freie Lebens- und Lernformen von
Kindern können bei uns nicht realisiert werden, solange im Bildungsbereich die
Polizei das letzte Wort hat, indem sie das lernbehindernde Zwangslernen auch
dort durchsetzen muß, wo sinnvollere Lernbedingungen zur Verfügung stehen.)
Die Kinderrechtsbewegung fordert die gesetzliche
Gleichberechtigung des Kindes also nicht, weil sie Gesetzen zutraut,
irgendwelche wünschenswerten Fähigkeiten erzeugen zu können, sondern um den
skandalösen Zustand zu beenden, daß das Gesetz weiterhin ein vordemokratisches,
wissenschaftlich längst widerlegtes, objektiv wirklichkeitsfremdes Menschenbild
fixiert und damit wünschenswerte, notwendige, ja überfällige Entwicklungen behindert und vielfach sogar blockiert.
Wir akzeptieren, daß der Staat die Bürger nicht zu ihrem
Glück zwingen darf/kann. Wir akzeptieren nicht, daß er sie zu ihrem Unglück
zwingt.
Wir meinen nicht, daß der Gesetzgeber den von uns für gut
erachteten Übergang (s. „Aktuelle Problemlage“) vollstrecken könne/solle. Aber
wir verlangen, daß er diesen Übergang freigibt.
(Andernfalls würden die Betroffenen ihn sich freikämpfen müssen.)
Der Gesetzgeber ist nach eigenen Angaben entweder zur
weltanschaulichen Neutralität verpflichtet – dann muß er die einseitige
erziehungsideologische Position ohnehin räumen –, oder er ist auf das
christliche Menschenbild („das Menschenbild des Grundgesetzes“) festgelegt – dann
muß er zur Kenntnis nehmen, was Hans Ruedi Weber, Direktor für biblische
Studien beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf (in seinem Buch „Jesus und
die Kinder“) feststellt:
„Kinder wurden“ (in der griechisch-römischen Welt)
„als Rohmaterial angesehen, das geformt und gebildet werden mußte. Auch den
Juden waren Kinder in erster Linie als Schulkinder wichtig, die es zu unterrichten
und in Zucht zu nehmen galt. Jesus steht daher in einem ungeheuren Gegensatz zu
den Auffassungen seiner Zeit, wenn er ein Kind in die Mitte seiner Jünger
stellt, um diesen eine grundsätzliche Lehre zu erteilen. Für ihn war das Kind
kein Rohmaterial für Erziehung, sondern das Symbol wahrer Jüngerschaft.“ (S.
61)
Auch aus dieser Sicht ist der heutige gesetzliche Status von
Kindern also nicht zu rechtfertigen und kann der deutschen Kinderrechtsbewegung
– nach annähernd 2000 Jahren – schwerlich der Vorwurf gemacht werden, es
mangele ihr an Geduld oder sie handele überstürzt, wenn sie ihre Forderungen jetzt
mit Nachdruck vorträgt.
V.
Abrüstung konkret
(1) Das elterliche Züchtungsrecht
Den Initiatoren des Kinder-Doppelbeschlusses ist bewußt, daß
eine Brücke (der dargestellte historische Übergang) auf beiden Ufern abgestützt
sein muß. Auch durch das beste Fernrohr mit dem schärfsten Blick in die
schönste Zukunft werden solche Menschen kaum etwas sehen können, denen man
ihren gegenwärtigen festen Standpunkt nicht beläßt.
Diese Erkenntnis führte zu dem Vorschlag, als ersten Schritt
in die angegebene Richtung (Menschenrechte für alle) das elterliche Züchtigungsrecht
abzuschaffen. Denn dieses „Recht“ ist ohnehin verfassungswidrig, da es
regierungsamtlich als Gewohnheitsrecht eingestuft wird, ein Gewohnheitsrecht
aber nach übereinstimmender Meinung der Verfassungsrechtler gegenüber dem
Grundgesetz (z. B. freie Entfaltung der Persönlichkeit, Recht auf körperliche
Unversehrtheit) keinen Bestand haben kann. Hinzukommt: Auch
erziehungsideologisch extrem fixierte Fachleute bezeichnen inzwischen so gut
wie ausnahmslos die Prügelstrafe als untaugliches, in der Regel das Gegenteil
des Beabsichtigten erreichendes Erziehungsmittel. Und: Aufgrund zahlreicher
Umfragen kann davon ausgegangen werden, daß die Mehrheit der
bundesrepublikanischen Erwachsenen heute in der Lage und willens ist, dem
Kinderfoltern (dem einstmals beliebtesten Volkssport der Deutschen) zu
entsagen.
Es bedarf also nicht des geringsten Umdenkens des
Gesetzgebers, um das elterliche Züchtigungsrecht abzuschaffen. Er muß lediglich
das von ihm selbst beanspruchte Gewaltmonopol des Staates ernstnehmen. Man
braucht kein Kinderrechtler zu sein, um die Ungeheuerlichkeit zurückzuweisen,
daß der Staates dieses „Monopol“ ausgerechnet gegenüber den schwächsten
Mitgliedern der Gesellschaft nicht durchhält, sondern Eltern dazu legitimiert,
(wie es regierungsamtlich heißt:) „im Rahmen des durch den Erziehungszweck
gebotenen (1) Maßes“ Gewalt gegen ihre Kinder einzusetzen. Da die Eltern ihre
Erziehungszwecke beliebig festlegen können, bedeutet dies konkret, daß der
Staat die Kinder zum Freiwild elterlicher Willkür und Vergewaltigung erklärt.
(Zwar kann man auch mit Tyrannen gut auskommen, wenn man alles tut, was sie
wollen, doch rechtfertigt diese Chance keine Tyrannei.)
In den Reihen der Kinderrechtsbewegung wird die Bedeutung
des Züchtigungsrechts gelegentlich heruntergespielt, weil es nur die Konsequenz
aus einer bestimmten Einstellung sei (der adultistischen,
erziehungsideologischen, objektiv kinderfeindlichen), die es insgesamt zu
überwinden gelte. Andernfalls würde das körperliche Faustrecht lediglich durch
das seelische und das geistige Faustrecht ersetzt. Es sei eine sekundäre Frage,
ob Eltern ihre Erziehungsziele mit Gewalt oder mit List (durch Zwang oder
Verführung, über Gehorsam oder Einsicht) durchsetzten.
Auf der anderen Seite können auch radikale Kinderrechtler
nicht an der Feststellung vorbeigehen, daß ihre viel weiter gesteckten
(primären) Ziele von solchen Politikern gewiß nicht realisiert werden, die
nicht einmal das offensichtlichste Unrecht, die nackte Gewalt im Auftrage des
Staates, zu beenden gewillt sind. Insofern ist unseres Erachtens das
Züchtigungsrecht politisch das primäre Problem und die naheliegendste
Forderung. Und weil unsere Staatsgewaltigen seit Jahren kein einziges nicht
längst widerlegtes Argument vorbrachten, das ihre Verteidigung und Propagierung
der elterlichen Gewalt rechtfertigen könnte, ist die von der
Kinderrechtsbewegung für diesen ersten Schritt gesetzte Frist von neun Monaten
angemessen und ausreichend.
Mit welchem Gesetzestext das elterliche Züchtigungsrecht
widerrufen wird, ist uns gleichgültig. Eine elegante Lösung wäre, den geltenden
Sorgerechtsparagraphen 1631 (2) BGB durch zwei Worte zu ergänzen:
„Entwürdigende und (oder ,sowie') gewaltsame Erziehungsmaßnahmen sind
unzulässig.“
In der Begründung ist der Justiz klarzumachen, daß diese
Ergänzung nicht dazu führen soll, gewalttätige Eltern häufiger als bisher zu
bestrafen. (Wir sehen auch sie als Opfer an: sowohl ihrer Erziehung als auch
offizieller Einstellungen und Verlautbarungen, die das Feindbild Kind
propagieren und den konsequenten Gewaltverzicht als Schwäche, Feigheit oder gar
Verantwortungslosigkeit diffamieren.)
Die Kinderrechtsbewegung in ihrer Gesamtheit weiß, daß die
nackte Gewalt gegen Kinder nur die Spitze des Eisbergs Entrechtung und
Entmündigung darstellt. Es ist jedoch offensichtlich, daß das elterliche
Züchtigungsrecht am krassesten die vordemokratische Tradition als gesetzliches
Leitbild zementiert und damit den geschilderten Übergang für breite Kreise blockiert.
Denn solange der Staat Gewalt gegen Kinder legitimiert und gebietet, kann von
staatstreuen Bürgern kaum erwartet werden, daß sie gewaltfreie
Konfliktlösungsmöglichkeiten überhaupt in Erwägung ziehen, geschweige denn
sich so intensiv mit ihnen auseinandersetzen, wie es nötig ist, damit der
Gewaltverzicht nicht als besondere und möglicherweise verunsichernde Leistung
erscheint, sondern zu der Selbstverständlichkeit werden kann, die eine
gleichberechtigte Beziehung zwischen Eltern und Kindern ermöglicht.
Aus aktuellem Anlaß fügen wir hinzu: Solange die Regierung
Gewalt gegen Schwächere „im Rahmen des durch den Erziehungszweck gebotenen
Maßes“ für statthaft erklärt, ist vielen jungen Menschen, insbesondere den
konkreten Opfern solcher Gewalt, logisch nicht einsichtig zu machen, daß sie
auf die schon der Sache nach viel weniger ungerechte Gewalt gegen Stärkere – etwa
,im Rahmen des durch den Demonstrationszweck gebotenen Maßes‘ – verzichten
sollen. Wenn unser Staat auch nur den geringsten Wert auf seine Glaubwürdigkeit
legt, muß ihm schon dieser letzte Grund allein genügen, dafür zu sorgen, daß
auch Eltern ihre Zwecke – als wie wichtig sie ihnen erscheinen mögen – nicht
mehr mit Gewalt durchsetzen dürfen.
(2) Weitere dringende Übergangsmaßnahmen
Die Kinderrechtsbewegung verlangt, daß innerhalb der nächsten
neun Monate auch mit dem Abbau der direkten staatlichen Gewalt gegen Kinder und
jugendliche begonnen wird. Zumindest gegen die brutalsten Auswüchse der
bestehenden Erziehungsdiktatur sind geeignete Maßnahmen zu suchen.
Da wir großen Wert darauf legen, den Gesetzgeber nicht zu
überfordern und dem gegenwärtigen Bewußtseinsstand der Bevölkerung Rechnung zu
tragen, werden wir diese Frist für eingehalten ansehen, wenn bis dahin eine
offene Diskussion über besonders extreme Problembereiche eingeleitet wird.
Um der Diskussion nicht vorzugreifen, formulieren wir die
drei unserer Meinung nach wichtigsten Punkte in Form einfacher Feststellungen.
(a) Kinder und Jugendliche, die aus unerträglichen Lebensverhältnissen
fliehen (die sog. Ausreißer), können
keine wirksame Hilfe finden, solange die Polizei verpflichtet ist, sie ihren
Peinigern wieder auszuliefern.
(b) Kinder und Jugendliche, die unter der Zwangsschule
besonders intensiv leiden (die Schulverweigerer),
werden in der Regel als faul oder krank eingestuft und oft in den Selbstmord
getrieben, obwohl gerade sie in Wirklichkeit nur das Gefühl für ihre menschliche
Würde noch nicht verloren haben.
(c) Kinder und Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt
geraten (sog. Delinquenten), sollen
in Erziehungsheimen und Jugendgefängnissen zu einem rechtschaffenen Lebenswandel
erzogen werden, obwohl jedermann weiß, daß sie dort meist nur weiter stigmatisiert
und auf eine kriminelle Laufbahn gedrängt werden.
Die Kinderrechtsbewegung bietet Bundesregierung und
Bundestag Verhandlungen an mit dem Ziel, insbesondere in diesen drei Problembereichen
möglich schnell für Abhilfe zu sorgen. Sie denkt dabei nicht an Alibi-Anhörungen
und Verschleppungs-Kommissionen, sondern an tatsächliche Schritte zur Lösung
der Probleme (Zwischenlösungen).
Zusammenfassung
Um eine Entwicklung einzuleiten, die den Frieden zwischen
den Generationen auf der Basis von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit auch für
junge Menschen erreichen soll, werden Bundesregierung und Parlament aufgefordert,
innerhalb von neun Monaten mit dem Abbau der extremsten adultistischen Droh-,
Gewalt- und Erpressungspotentiale zu beginnen. Im einzelnen soll mindestens das
elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft (bzw. das entsprechende Gesetz mit
erkennbarer Erfolgssicherheit auf den Weg gebracht) sowie eine breite
Diskussion in Gang gekommen sein über das Recht von Kindern und Jugendlichen,
sich unzumutbaren Erziehern zu entziehen, das Teilzeitgefängnis Schule und die
dort vielerorts übliche Kinder-Zwangsarbeit zu verweigern und auch im Falle
größter sog. Erziehungsschwierigkeiten nicht eingesperrt zu werden.
Die Initiatoren und Unterstützer des
Kinder-Doppelbeschlusses halten ihr Verhandlungsziel für fair und eher „zahm“.
Sie appellieren an die angesprochenen Verantwortlichen, nicht durch abwehrende
oder auch nur zögerliche Reaktionen jenen Kräften innerhalb der deutschen
Kinderrechtsbewegung Auftrieb und Recht zu geben, die nur außerhalb von Politik
und Legalität die Chance sehen, der Gewaltherrschaft der Mehrjährigen über die
Minderjährigen ein Ende zu bereiten.
Zusatz einer Minderheit innerhalb der Initiatorengruppe: Wenn
es richtig ist, was Helmut Schmidt und Helmut Kohl übereinstimmend verkündet
haben, daß nämlich Pazifismus nur persönlich respektabel, aber nicht zu
verantworten sei, wenn man andere vor der Gewalt Dritter zu schützen habe,
müssen Kinderrechtler sich die Frage stellen, wie lange sie sich noch so
unverantwortlich verhalten dürfen wie bisher. Jeder in staatlichem Auftrag
toterzogene oder erselbstmordete Minderjährige lastet auf ihren pazifistischen
Gewissen.
VI. Nachrüstung konkret
(1) Aufklärung für Minderjährige
Sollte es sich bis Oktober 1984 herausstellen, daß der
Gesetzgeber nicht bereit ist, die aus schlimmen Traditionen stammende gesetzliche
Absicherung einseitiger erwachsener Bevorrechtigung (Überrüstung) abzubauen, wäre
die Kinderrechtsbewegung gezwungen, ohne Rücksicht auf die Gewohnheiten und
subjektiv berechtigten Wunschvorstellungen traditioneller Mehrjähriger die
Minderjährigen mit den zu ihrer erfolgreichen Gegenwehr nötigen Kenntnissen auszurüsten.
Das neue Menschenbild widerlegt die überkommene Erziehungsideologie
ja nicht nur auf der Täter-, sondern auch auf der Opferseite. Solange jedoch
viele Erwachsene, speziell die- politisch verantwortlichen, das Menschenbild
unseres Grundgesetzes nicht in seiner Allgemeingültigkeit verstanden und
akzeptiert haben, versuchen sie mit vielerlei Tricks, Kindern das Bewußtsein ihrer
Freiheit und Menschenwürde vorzuenthalten. Mit einem nahezu perfekt ausgeklügelten
System gezielter Desinformationen, Vertröstungen, auf die Zukunft und mehr oder
weniger verschleierten Drohungen mit der nackten Gewalt wird die ursprüngliche
Gutmütigkeit von Kindern schamlos ausgebeutet, bis sie – idealerweise – ihr
Selbstverständnis ganz nach dem (dadurch den Anschein von Wahrheit erhaltenden)
Menschenbild ihrer Erzieher ausrichten. Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein werden
ersetzt durch Selbstzweifel (bis zum Selbsthaß) und Autoritätsgläubigkeit. Gelegentlicher
Protest äußert sich in blindem, selbstschädigendem Trotz. Auch der berechtigte
Widerstand, unbewußt und ungekonnt geleistet, endet in Resignation, Anpassung,
Depression. Die Klügeren geben nach, und die anderen haben die Macht.
Dieser Mechanismus muß von uns notfalls, also wenn die
Täterseite keine Einsicht zeigt, auf der Opferseite außer Kraft gesetzt werden.
Wir müssen Kindern (z. B. über die Medien, mindestens aber durch bundesweite
Flugblattaktionen vor Kindergärten, Schulen usw.) das Wissen zur Verfügung stellen,
welches ihnen das Bewußtsein ihrer Macht, d. h. ihrer realen Möglichkeiten der
Selbsterhaltung, wieder nahebringt. Wir müssen Kinder und jugendliche darüber
informieren, daß sie keineswegs machtlos sind, nicht hilflose Opfer oder
passive Objekte erwachsener Willkür, sondern selbst entscheiden – nicht
entscheiden können, sondern tatsächlich entscheiden –, ob sie die ihnen
zugedachte Rolle spielen oder nicht. Sie entscheiden selbst, ob sie gehorchen
oder nicht, ob sie den Ehrgeiz ihrer Eltern und Lehrer zufriedenstellen und
ihnen ermöglichen, sich als gute Eltern und Lehrer zu fühlen (und als solche angesehen
zu werden). Kinder können auch ganz
anders. Sie können die Erwachsenen sehr leicht zur Verzweiflung bringen. Sie können
problemlos sämtliche Gesetze brechen – unter 14 gelten sie ohnehin als
unzurechnungsfähig; aber auch jugendliche brauchen die ihnen undemokratisch
aufgezwungenen Erwachsenengesetze nicht einzuhalten. Sie müssen nur die Tricks
durchschauen, mit denen sie bis heute veranlaßt wurden, sich selbst zu
entmündigen.
Um keine unnötigen Ängste aufkommen zu lassen, erklären wir,
daß wir nicht Kleinkindern Waffen
geben und nicht den Umgang mit leicht
zugänglichen Giften lehren werden, um sich feindlicher Erwachsener entledigen
zu können. Wir werden auch nicht etwa
den Sechsjährigen sagen, daß sie durchaus stark genug sind, einen gewalttätigen
Erwachsenen außer Gefecht zu setzen, indem sie ihn z. B. mit einem Beil
erschlagen, während er schläft. Im Gegensatz zu Gewaltpredigern und
Erziehungsfanatikern wollen wir nicht die eine Partei gegen die andere
aufhetzen, sondern müssen alle Beteiligten aufklären, solange bestimmte
Erwachsene ihre Macht dazu mißbrauchen, gutgläubige Kinder zu verwirren,
einzuschüchtern und abhängig zu machen.
So wie sich unter Frauen seit einiger Zeit herumspricht, daß
sie sich keineswegs „über den Mann definieren“ müssen, sondern selbst
bestimmen (nicht: „frei“; aber immer: selbst), ob sie sich patriarchalischen Normen
unterordnen, und wie Männer allmählich lernen, daß sie sich dem überlieferten Männlichkeitsideal
entziehen können, müssen wir die Initiative ergreifen, damit sich unter Kindern
und jugendlichen das wissen verbreitet, daß sie immer und unausweichlich ihr
eigenes Leben leben, selbst bestimmend, selbstverantwortlich und selbst am
besten wissend, was gut und richtig ist, daß sie keine Erziehung brauchen, daß
es keine Unmündigkeit und ohne Mitwirkung der Kinder keine Erziehung gibt, daß
alle Menschen von Anfang an existentiell freie Subjekte sind, daß Kinder ihre Abhängigkeit
von der Erwachsenenwelt oft überschätzen, daß die meisten Eltern heute im Falle
des Falles davor zurückschrecken würden, ihre Kinder aus erzieherischen Gründen
hinzurichten. Im Extremfall müssen wir Kindern sagen, daß es heutzutage höchstwahrscheinlich
eine Illusion ist, wenn sie glauben, sich durch Nachgiebigkeit gegenüber ihren
Erziehern einen natürlichen Tod sichern zu können. (Auch für Kinder ist echter
Frieden nur in Freiheit und Würde möglich.)
Die Darstellung weiterer Einzelheiten über die Entlarvung
der gebräuchlichsten Erziehungslügen scheint uns gegenwärtig nicht sinnvoll zu
sein. Allgemein gilt: Seit jeher versuchen Unterdrücker den Unterdrückten (z.
B. die Sklavenhalter den Sklaven, die Kolonisatoren den Kolonisierten, die
Männer den Frauen, die Herrschenden den Untertanen, die Erzieher den Zöglingen)
einzureden, es wäre das Beste für sie, die Opfer, wenn sie brav die ihnen zugedachte
bzw. aufgezwungene Rolle spielten, im Grunde seien sie gar keine Opfer, in
Wirklichkeit geschehe alles zu ihrem Schutz und Wohl. So verständlich dies aus
der Sicht der Täter ist, so unabdingbar ist der Erfolg solcher Versuche daran
gebunden, daß ihre Adressaten das Spiel nicht durchschauen (vgl. bes. B. Moore,
„Ungerechtigkeit – Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand“,
sowie A. Miller, „Du sollst nicht merken“). Unwissenheit ist Ohnmacht.
(2) Aufklärung für Mehrjährige
Nicht nur Kinder werden von Kinderführern (Pädagogen), auch
Erwachsene werden von Volksführern (Demagogen) häufig desinformiert,
manipuliert, indoktriniert, auf deutsch: belogen und betrogen. (Wir erkennen
ausdrücklich an, daß viele Erwachsene, die die Berufsbezeichnung „Pädagoge“ oder
„Erzieher“ führen, in ihrer Haltung schon lange das neue Menschenbild repräsentieren.
Zwei von ihnen sind Mitglieder der Initiatorengruppe.)
Wir unterstellen den „Herrschenden“ für die Vergangenheit
keinen bösen Willen, sind aber entschlossen, für den Fall, daß unsere
Vorschläge abgelehnt werden, notfalls mit Hilfe spektakulärer Aktionen der Bevölkerung
bekanntzumachen, auf welche Weise führende Politiker aller Parteien häufig gegen
besseres Wissen sämtlid1e Initiativen der deutschen Kinderrechtsbewegung (seit
1976) ignoriert oder blockiert haben. Wir sind sicher, mit dem Nachweis, daß durch
dieses Verhalten unserer Volksvertreter tausende unschuldige deutsche Kinder sinnlos
und vermeidbar sterben mußten (und täglich geht das Morden für einen Aberglauben
weiter), vielen Bürgern die Augen darüber öffnen zu können, welchem „Menschentypus“
sie bei Wahlen ihre Stimme gaben. Wer so skrupellos und unbelehrbar über die
Leichen von Kindern geht, kann auch sonst kaum eine menschenfreundliche Politik
betreiben. Wir sind sicher, daß die Geduld der Bevölkerung nicht grenzenlos
ist.
Für halbwegs gebildete Zeitgenossen ist es zwar nicht neu,
daß viele unserer Politiker („rechts“ wie „links“) noch immer Machtmenschen sind,
die einen Obrigkeitsstaat mit von Kindheit an verängstigten, eingeschüchterten,
leicht regierbaren Untertanen wollen. Wenn jedoch der 1. Teil des Kinder-Doppelbeschlusses
scheitern sollte, werden wir auch den sog. einfachen Leuten die Zusammenhänge
klarmachen können. Die Kinderfrage ist zweifellos wie kein anderer Problembereich
geeignet, die Seriosität und Glaubwürdigkeit von Politikern auf die Probe zu
stellen. Sollten sie fortfahren, den Frieden in den Familien planmäßig zu sabotieren,
würde es uns leichtfallen, sie vor jedermann zu demaskieren. Es ist nun einmal
einfacher, Abrüstung gegenüber lieblichen Säuglingen zu fordern als gegenüber hochgerüsteten
Staaten. Wer aber nicht einmal das erstere will ...
Die Kinderrechtsbewegung hat für den 2. Teil noch eine Reihe
starker Argumente, Informationen und Aktivitäten „auf Lager“. Ein eher
harmloses, aber bezeichnendes Beispiel: Wenn es um Kinder geht, fälschen Bundesregierungen
bewußt das Grundgesetz. In einem Handbuch über Kindesmißhandlungen (1. Auflage
1979) wurde in Art. 2 (1) GG die Freiheit eliminiert. „Jeder hat das Recht auf
die Entfaltung seiner Persönlichkeit ...“ (S. 95). Obwohl die Aktion
Kinder-SCHUTZ in einem (bestätigten) Brief an das zuständige Ministerium
(BMJFG) 1980 energisch gegen die Streichung des Wortes „freie“ vor „Entfaltung“
protestierte, wurde es in den folgenden Auflagen (trotz anderer Korrekturen) nicht
wieder eingesetzt. – Das Handbuch wird auch von der neuen Regierung so
verschickt. Freiheit und Kinder, das paßt für Regierende gleich welcher Couleur
nicht zusammen.
Weniger harmlos versprechen diverse Forschungsprojekte zu
werden, z. B. zur Überprüfung der These, daß Politiker, Wissenschaftler und
andere Erziehungspropagandisten als „Erziehungs-Dealer“ den Drogen-Dealern
gleichzusetzen sind, die offiziell als Mörder bezeichnet werden, obgleich sie
selbstverständlich ihren Kunden niemals zum Mißbrauch der Droge raten. (Die
Tötung eines Kindes im Eifer der Erziehung wird juristisch als Mißbrauch oder Überschreitung
– „Überdosis“ – des Erziehungs- resp. Züchtigungsrechtes interpretiert.)
Wir glauben, es ist auch ohne weitere Details und erneute
Zusammenfassung (s. dazu unter „Inhalt“) deutlich geworden, daß der 2. Teil des
Kinder-Doppelbeschlusses keine „leere Drohung“ ist, sondern eine erhebliche Brisanz
beinhaltet. Wir betonen aber nochmals, daß wir diesen 2. Teil selbstverständlich
(analog der Raketen-Nachrüstung) vermeiden wollen. Er soll lediglich dazu
dienen, die zuständigen Politiker zu motivieren, sich dem 1. Teil gegenüber aufgeschlossen
zu zeigen.
VII. Friedensangebot
Gewisse unfreundliche Formulierungen und Ankündigungen des
vorigen Abschnitts entsprechen der Natur der Sache. Auch die US-Raketen sind
nicht als Kompliment für den Ostblock gedacht. Weil wir uns aber während .der
nächsten neun Monate ganz auf die Abrüstungsgespräche konzentrieren wollen,
möchten wir jetzt noch auf die Vorteile hinweisen, welche die Abrüstung der
Erwachsenen für diese selbst zu bieten hat.
Die große Mehrheit der deutschen Kinderrechtsbewegung ist der
festen Überzeugung, daß der gegenwärtig sich vollziehende Übergang von der
„Beziehungsform Sozialisation“ zur „Beziehungsform Unterstützung“ (L. deMause),
also die Entwicklung eines neuen Konsens auf der Basis der Gleichberechtigung
(nicht der Gleichheit!) der Generationen, eine Aufgabe ist, die am
reibungslosesten und schnellsten gelingen wird, wenn alle Beteiligten sie als gemeinsame Aufgabe begreifen. Noch
besser: als gemeinsame Chance.
Seit jeher setzen sich Kinder – bewußt oder unbewußt, blind
oder clever, aggressiv oder depressiv usw. – gegen ihre Vergewaltigung zur Wehr
(vgl. K. Rutschky, „Deutsche Kinder-Chronik“). Seit aber das alte Menschenbild
nicht mehr durchgängig anerkannt wird, ergeben sich zusätzliche Probleme und
steigt die Zahl der Opfer (auf beiden Seiten). Die Ideen von Menschenrechten,
Demokratie, Freiheit lassen sich vor Kindern nicht mehr konsequent
geheimhalten. Auch wenn sie nicht das Grundgesetz lesen (oder z. B. die
Hessische Verfassung, in der der lapidare Satz steht: „Der Mensch ist frei.“),
so hören sie doch z.B. den Welthit von Pink Floyd, „We don't need no Education“,
oder aktuell z.B. , Song von Daliah Lavi, „Ich muß nur sterben, und sonst gibt
es kein Muß“. Durch derlei Bekundungen bricht das neue Menschenbild auch in
ansonsten sorgfältig abgeschirmte und behütete Kinderwelten ein, und immer mehr
Kinder (und Erwachsene) geraten in den Gegensatz zwischen Möglichkeit (mit der
Tendenz zum Anspruch) und Wirklichkeit. Dadurch werden nicht nur Kinder
unzufriedener, auch die Positionen der Erwachsenen werden immer schwieriger,
ihre Verantwortung wird belastender, ihre Verunsicherung wächst, die an dem
alten Menschenbild orientierten erzieherischen Erfolgsaussichten werden
fragwürdiger. Eine Rückkehr zu den alten Traditionen ist unmöglich.
In dieser Lage bietet die deutsche Kinderrechtsbewegung
allen noch erziehungsgläubigen Erwachsenen an, ihre Erfahrungen zu nutzen, die
grundsätzlich mißtrauische und letztlich feindselige Erziehungs-Perspektive
aufzugeben und sich mit ihrer Verantwortung nicht mehr an ohnehin fragwürdigen
Zukunftsplänen, sondern konkret an den Menschenrechten zu orientieren. Dann
gilt z. B. der elterliche Ehrgeiz und Stolz nicht mehr der möglichst
vollständigen Ausrottung des kindlichen Eigensinns, sondern seiner möglichst
vollständigen Respektierung. Diese –
dynamische und dialogische – Sichtweise, so fremd sie demjenigen erscheinen muß,
der mit ihr noch keine Erfahrungen machen konnte, wirkt außerordentlich entlastend
und produktiv. Sie bringt der älteren Generation Selbstsicherheit, stellt die
Beziehungen zwischen Mehrjährigen und Minderjährigen auf eine neue, Frieden,
Vertrauen, Freundschaft und Zusammenarbeit ermöglichende Basis und erlaubt im
übrigen auch das sog. Notwehrprinzip, also das Recht von Erwachsenen, sich ohne
erzieherische Skrupel gegen eventuelle Unterdrückungs- und Ausbeutungsversuche der
Kinder angemessen zur Wehr zu setzen.
Solange man in Kindern entsprechend dem alten Menschenbild
das auszurottende Böse vermutete oder sie wie zu formende Tonklumpen als
passives Material für mehr oder weniger ausgefeilte Erziehungskünste ansah,
wurden logischerweise die ureigenen Triebkräfte der Kinder als Störungen
interpretiert, die im Dienste der Aufrechterhaltung gewohnter äußerer Ordnungen
ausgeschaltet bzw. gebändigt werden mußten. Erst im Lichte des neuen
Menschenbildes (das sich gemeinsam mit einer neuen Einstellung auch zur
außermenschlichen Natur entwickelte) wird sichtbar, welche Fülle von positiven
Potenzen in Kindern vorhanden ist, die, wenn ihre innere Ordnung nicht zerstört
wird, auch für Erwachsene den größten Nutzen haben (vgl. z. B. I. Mann, „Die
Kraft geht von den Kindern aus“; M. Doehlemann, „Von Kindern lernen“). Erst in
diesem Lichte werden auch die aus dem alten Menschenbild der eigenen Kindheit
stammenden massiven Ängste vieler Erwachsener vor der Freiheit von Kindern entkräftet.
Der sinnlose Streit, was Kinder „brauchen“, was sie „fördert“, was ihrem „Wohle“
dient, findet ein Ende, sobald die Erwachsenen zur Kenntnis nehmen, was Kinder wollen und daß ihre Entwicklung objektiv
am besten gefördert wird, wenn sie sich subjektiv frei entfalten und wohlfühlen
können. – Diese „antipädagogische“ Einstellung ermöglicht im übrigen nicht nur
Kindern, sondern auch Erwachsenen ein gesundes Selbstvertrauen und
Selbstbewußtsein. Die Erwachsenen können also auch für ihre eigene
Selbstsicherheit nichts Sinnvolleres tun, als sich ihrer Selbstbestimmtheit,
ihrer positiven Kräfte (z. B. zur ungeplanten Selbstkorrektur) und ihres
Rechtes auf eine befriedigende Gegenwart in vollem Ausmaß bewußt zu werden, d.
h. auch sich selbst nicht mehr mit erzieherischen Augen anzusehen. (Vgl. z. B.
J. Wunderli, „Sag Ja zu Dir“; P. Lauster, „Lebenskunst“; E. v. Braunmühl, „Zeitfür Kinder“; C. R. Rogers, „Die Kraft des Guten“; H. Ostermeyer, „Zärtlichkeit“.)
Der Kinder-Doppelbeschluß ist selbstverständlich in erster
Linie eine politische Initiative. Er kann, für sich genommen,
erziehungsgläubige Menschen nicht „bekehren“. Die Kinderrechtsbewegung reagiert
mit ihm auf die bisherige Ignoranz der zuständigen Politiker, ihren oft
buchstäblich mörderischen Zynismus, mit dem sie die Schuld für
Kinderfeindlichkeit, Kindesmißhandlungen u. ä. (ebenso für viele aus der
fehlenden Selbstakzeptanz stammenden Leiden von Erwachsenen) auf die angeblich unaufgeklärte
Bevölkerung schieben, obgleich sie selbst jede dies bezügliche Aufklärung abwehren
und hintertreiben.
Die Kinderrechtsbewegung scheut zwar keine Konfrontationen,
wenn diese sich zur Vermeidung noch größerer Opfer als unumgänglich erweisen
sollten. Wir werden aber immer wieder betonen, daß wir nichts anderes anstreben
als die Versöhnung der Generationen. Wir sind der Überzeugung, daß all die
Energien, die im Erziehungskrieg auf beiden Seiten sinnlos vergeudet werden, an
anderen Stellen dringend fehlen. Wir wollen erreichen, daß sie freigesetzt werden
und im Interesse der Menschen jeglichen Alters zur Lösung der echten Probleme
der Gegenwart und Zukunft zur Verfügung stehen. Oder sind wir „Utopisten“, wenn
wir uns mit einem solchen Ansinnen an Politiker wenden und ihnen unterstellen,
sie könnten, wenn sie wollten, sich von Argumenten berühren lassen, statt in
Starrheit und Trotz zu verfallen?
Würde die Kinderrechtsbewegung zur Mobilisierung der
Minderjährigen gegen die Mehrjährigen gezwungen, wäre die Chance vertan, daß
die Generationen sich friedlich aufeinander zubewegen. Die Verantwortlichen werden
abzuwägen haben, ob ihnen möglicherweise die Verteidigung ihrer privaten Vorurteile
wichtiger ist als die konstruktive Bewältigung einer entscheidenden historischen
Situation. Ihr bisheriges Totschweigen funktioniert nicht mehr. Sie werden
antworten müssen. Und ihre Antworten verantworten.
VIII. Friedensbewegung und Kinderfrage
Die Bürger Mitteleuropas leben schon seit vielen Jahren auf
einem atomaren Pulverfaß. Für das Bewußtsein der Mehrheit von ihnen ist dieses
Faß durch den jetzigen Aufrüstungschub übergelaufen.
Diese Erscheinung ist nicht allein durch die Erfahrung zu
erklären, daß Untertanen sich immer dann zur Wehr setzen, wenn ihre
Obrigkeiten, wie man sagt, „den Bogen überspannen“, bestimmte Dinge
übertreiben. Wir nehmen an, der heutige Widerstand sei außerdem als Reflex auf
die historische Tatsache zu verstehen, daß besonders in Deutschland die Untertanen selbst „bestimmte Dinge“
übertrieben haben. Ihre nach dem alten Menschenbild letztlich nicht kritisierbare
Gehorsamsbereitschaft, Autoritätsgläubigkeit, Verantwortungsscheu hatte während
des „Dritten Reiches“ Konsequenzen gezeitigt, die nicht mehr „bewältigt“ werden
konnten, ohne daß das alte Menschenbild ins Wanken geriet. Doch konnte es nicht
als Ganzes stürzen, weil die Erziehungsideologie noch nicht durchschaut war. (Die
Amerikaner versuchten die „Umerziehung“ der Nazis, und die „antiautoritäre“
Kindererziehung verblieb ebenso wie die heute propagierte „Friedenserziehung“ zum
größten Teil im Rahmen der päd- und demagogischen Weltanschauung.) Wir leben nach
wie vor in einer filizidalen – kindermörderischen – Kultur (vgl. D. Milburn, „Kindesmord“).
Erst allmählich merken die jeweiligen Opfer, was für den Schulbereich Walther
Borgius in seinem 1930 geschriebenen, 1933 verbotenen und 1981 (bei noch
gesteigerter Aktualität) wiederaufgelegten Buch „Die Schule – ein Frevel an derJugend“ feststellte:
„Nur die ständige … willige Unterwerfung der
Schülerschaft gewährt ja den sie beherrschenden Gewalten – Lehrerschaft, Elternschaft
und Staatsbehörden – die Möglichkeit ihrer Unterdrückung." (S.1 99)
Die Gehorsamsbereitschaft von Kindern gegenüber Erwachsenen,
Staatsbürgern gegenüber Regierungen – in Ost und West – und Regierungen – in
Ost und West – gegenüber Großmacht-Regierungen – in Ost und West – ist nach dem
alten Menschenbild völlig korrekt. Ziviler oder gar militärischer Ungehorsam
erscheint als außerordentliche und besonders zu legitimierende Leistung.
Nach dem neuen Menschenbild ist dagegen nicht die jeweilige
Selbstbestimmung, sondern das Gehorchen die zu rechtfertigende Ausnahme. Daß
obrigkeitsstaatlich denkende Regierende und ihre Mittäter in Wissenschaft, Justiz
usw. die noch im alten Menschenbild befangen sind, auf solche Feststellungen
mit „Haltet den Dieb!“ reagieren, von „Unregierbarkeit“ reden usw., ist
verständlich und bzgl. ihrer Auffassung von Regieren auch zutreffend. Aber
sobald die Einschüchterungs-, Sprachregelungs und sonstigen Verwirrungs- wie Anbiederungstricks
der jeweiligen Führer einmal durchschaut sind, können sie ihre Macht nur noch
mit Brachialgewalt zu erhalten versuchen. Gleichgültig, was die großen Demonstrationen
der Friedensbewegung kurzfristig konkret bewirken: sie beweisen, daß immer mehr
Bürger den automatischen Gehorsam verlernen und daß dies für ihr Gefühl und ihr
Bewußtsein erhebliche Bedeutung hat. Man kann sogar von einer neuen
Lebensqualität sprechen, einer Kultur der Ungezogenheit (vgl. J. Beck u. a., „Das
Recht auf Ungezogenheit“, Dez. 1983). Die Erfahrung individueller
Selbstbestimmung und mitmenschlicher
Solidarität – aus machtmenschlicher
Sicht unverständlich, nur mit Albernheiten wie „5. Kolonne Moskaus“
interpretierbar – hat offensichtlich ansteckende Wirkungen. Die „irregeleiteten“
Demonstranten sind in Wahrheit nur bewußt innengeleitete.
Wir sind sicher, daß bald auch Soldaten und Polizisten sich nicht mehr hinter
Begriffen wie „Befehl“ oder „Pflicht“ von ihrer Entscheidungsfreiheit und
-verantwortung entbinden können, und daß dann die verschwindend kleine
Minderheit der sog. Herrschenden aufs Altenteil verschwindet. Ein souveränes
Volk, das keine Herrschaft will, braucht nur die Selbst-Beherrschung zu
verlieren.
Minderheitsvotum: Nach dem neuen, von Christus begründeten Menschenbild ist es eine
Sünde wider die Schöpfungsordnung, die innere Geordnetheit der Lebewesen zugunsten
äußerer Ordentlichkeiten zu vergewaltigen.
Die Kinderrechtsbewegung schlägt der Friedensbewegung vor,
gemeinsam dafür zu arbeiten, daß das neue Menschenbild noch schneller das alte
verdrängt, der aufrechte Gang das Kriechertum überwindet, die Machtmenschen
ihre Gefolgschaft verlieren. Der internationale Rüstungs-, der innerstaatliche Überwachungs-
und der intergenerationelle Erziehungswahn sind Folgen der gleichen Mentalität der gleichen Politiker (aller
Parteien) und ihrer Spießgesellen. Sie verfügen gegenüber kinderrechtlichen Argumenten
über vielleicht entscheidend weniger plausible Schutzbehauptungen. Wir nannten
schon das angebliche Gewaltmonopol des Staates. Ebenso entlarvend kann der
Hinweis sein, daß die Nachrüstungsbefürworter, die angeblich Frieden durch
ein Gleichgewicht der Kräfte anstreben, dort, wo die Überlegenheit der Kräfte eindeutig
ist, diese höchst unfriedlich zur Unterwerfung der Schwächeren einsetzen. Wer
Kindern den Frieden in Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit verweigert, kann nicht
beanspruchen, in anderen Bereichen als friedenswillig und friedensfähig
angesehen zu werden. Er mag seinen guten Willen noch so oft betonen: da der
keinem Menschen abzusprechen ist, ersetzt er keine Argumente. Wir werden uns
Politiker, die es in erster Linie mit ihrer Macht und ihren Vorurteilen gut
meinen, nicht mehr lange leisten können. Sie verdienen persönliches Mitleid,
aber nicht politisches Vertrauen.
Minderheitsvotum: Wer Angst vor freien Kindern hat, hat
Angst vor der Freiheit überhaupt und kann in einer freien Gesellschaft keine
Verantwortung tragen. Es dürfte lohnend sein, solchen Politikern zuzurufen, sie
sollten doch in den Osten gehen. Dort passen sie ins System und brauchen keine
neuen Gesetze zu ersinnen, um mit aufmüpfigen Bürgern fertigzuwerden.
Selbstverpflichtung
In einer Demokratie, so Bundespräsident Carstens und viele
andere, gibt es keinen Grund für eine Revolution. Wir, die Initiatoren des
Kinder-Doppelbeschlusses, verpflichten uns dazu, dies den jungen Menschen weiterzusagen,
sobald das Werk unserer freiheitsbewußten Vorfahren vollendet ist und auch
Kinder und Jugendliche in einer Demokratie leben.
IX. Wie könnte es weitergehen?
Zunächst: Die Initiatoren haben den vorstehenden Text am 10.12.1983,
dem internat. „Tag der Menschenrechte“, mit persönlichen Anschreiben an
Bundestagspräsident Barzel und Bundeskanzler Kohl geschickt. Sie zweifeln
allerdings, ob daraufhin umstandslos der 1. Teil des K-D verwirklicht wird.
Deshalb stellen sie sich vor, daß viele kinderfreundliche Menschen mithelfen könnten,
ihn zunächst einmal bekanntzumachen und eine öffentliche Diskussion herbeizuführen.
Erste Reaktionen auf einen vorab verschickten Entwurf
zeigen, daß der K-D sowohl begeisterte Zustimmung wie leidenschaftliche Ablehnung
weckt. Damit könnte! er geeignet sein, das Tabu, das die zahllosen Menschenrechtsverletzungen
gegenüber Kindern hierzulande umgibt, tatsächlich zu überwinden.
Wer andere, weniger spektakuläre Wege bevorzugt, ist herzlich
eingeladen, diese zu beschreiten.
Wer jedoch, wie die Initiatoren, diese anderen Wege
hinreichend ausprobiert hat, oder wer sie von vornherein als untauglich ansieht,
aber nicht unbegrenzt zusehen will, wie immer neue Generationen von Kindern in
staatlichem Auftrag körperlich und seelisch verstümmelt werden, könnte den K-D auf
vielfältige Weise unterstützen – nicht nur, um auf die Gesetzgebung Einfluß zu nehmen,
sondern auch, damit einige wichtige Erkenntnisse, die bisher von unseren Regierenden
und auch von Spitzenfunktionären angeblicher Kinderschutzorganisationen wie z.
B. des DKSB verschwiegen und unterdrückt werden, nicht länger nur in kleinen
Zirkeln kursieren, sondern möglichst allen Kindern, Eltern, Lehrern usw. zugute
kommen.
Die Initiatorengruppe
Hans A. Kloos, 1. Vors. OV Wiesbaden des DKSB
(verantwortlich); Bernhard Bartmann, Initiator der Regensburger Kongresse über
Freie Schulen, Traitching/Cham; Annette Böhm, AG Leben ohne Schule, Köln; Karlo
Heppner, Kinderfrühling, Wiesbaden; Monika Schiller, Vorstandsmitglied im
Bez.-Verb. Frankfurt des DKSB, Liederbach; Bertrand Stern,
Forschungsgemeinschaft für antipädagogische Fragen, Eitorf/Sieg; Albrecht
Ziervogel, Aktion Kinder-SCHUTZ, Frankfurt (vormals Bundesgeschäftsführer des
DKSB). – Wissenschaftliche Beratung: Dr. Wolfgang Hinte, Professor der
Erziehungswissenschaft an der Universität Essen, Autor u. a. des Buches „Non-direktive
Pädagogik“.
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