Angst
macht Schule?
Wollen wir nicht lieber Liebe statt Angst?
Stellen
Sie sich einen lieben Menschen vor, dessen Wohl Ihnen am Herzen
liegt: Ihre beste Freundin, Ihren besten Freund, Ihren Mann, Ihre
Frau, Ihre Liebste, Ihren Liebsten, Ihren Bruder, Ihre Schwester,
Ihre Mutter, Ihren Vater ... und sie oder er erzählte Ihnen
Folgendes: "Meine Arbeit macht mir überhaupt keine Freude.
Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, spüre ich nichts als Lustlosigkeit.
Es fällt mir manchmal wirklich schwer, dafür aufzustehen und mich
da hinzuschleppen." Was wäre Ihre Reaktion?
Stellen
Sie sich vor, dieser liebe Mensch erzählte Ihnen dies: "Ich geh
jeden Morgen mit Bauchschmerzen zur Arbeit. Sie macht mir so zu
schaffen, dass ich vor Sorgen oft nachts nicht schlafen kann. Wenn
ich morgens aufstehe, schnürt sich mir die Kehle zu. Manchmal ist
mir so übel, dass ich sogar brechen muss." Was wäre Ihre
Reaktion?
Stellen
Sie sich vor, nach einer gewissen Zeit solcher Klagen, würde diese
liebe Person sagen: "Ich halt es einfach nicht mehr aus, ich
kann da nicht mehr hingehen – ich will da nicht mehr
hingehen!" Was wäre Ihre Reaktion?
Wäre
es etwas in diese Richtung: "Meine Güte, was ist da los mit
deiner Arbeit(sstelle)?"?
Oder
vielleicht so: "Ist das wirklich die richtige Arbeit(sstelle)
für dich?"?
Oder
würden Sie vielleicht dies raten: "Egal, wie dreckig es dir
geht, du musst da unbedingt weiter hin!"?
Oder
würden Sie so reagieren: "Du bist total krank und musst
unbedingt in psychologische oder psychiatrische Behandlung!"?
Wirken
die letzten beiden Reaktionen seltsam auf Sie oder erscheinen sie
Ihnen ganz naheliegend? Wie würden Sie diesem lieben Menschen, der
Ihnen wichtig ist, den Sie sehr lieben und schätzen, begegnen?
Nun
stellen Sie sich bitte vor, dieser Mensch wäre unter 18 Jahre alt
...
* * *
Angst macht Schule?
Als
ich am Sonntag den Artikel las "Angst macht Schule",
empfand ich ein inneres Grausen angesichts der Botschaft und der
Haltung Menschen gegenüber, die darin zum Ausdruck kommt. Falls Sie
von dem Inhalt des Beitrags begeistert gewesen sein sollten, lesen
Sie besser hier nicht weiter, denn es liegt mir fern, irgendjemanden
überzeugen zu wollen. Allerdings möchte ich gern eine ganz andere
Sichtweise teilen und einige Fragen stellen. Falls Sie dafür offen
sind, lesen Sie gerne weiter ...
Was
halten Sie von folgender Annahme? Wenn ein Mensch spürt, dass ihm
etwas nicht gut tut, dass er mit etwas nicht glücklich ist, dass
etwas ihn möglicherweise krank macht, dass er vielleicht gar Gewalt
erlebt: Wäre es in Ihren Augen naheliegend und gesund, dass er sich
davon abwendet? Wäre es vielleicht gar merkwürdig und ungesund zu
beobachten, dass er sich nicht abwendet? Aus biologischer und
psychologischer Sicht können beide Fragen eindeutig mit Ja
beantwortet werden: Es ist gesund, Dinge zu vermeiden, die uns
schaden und uns krank machen – oder auch einfach Dinge, die uns
nicht nützlich und sinnvoll sind.
Wie
kommt es also zu dieser im Artikel vorgestellten Sicht auf die
sogenannte "Schulvermeidung"? Wieso wird hier davon
gesprochen, dass Menschen "sich drücken" (was ja
einen eindeutig negativen Beiklang hat: "Das darf man aber
nicht!")? Wer sind denn die, die sich da "drücken"?
1. Menschen, die "mehr Belastung als andere tragen"
Da
es ein Zeichen von Gesundheit, Kraft und Autonomie ist, sich selbst
abzugrenzen und Nein zu sagen, wäre folgende Reaktion hier
angebracht: "Gut, dass du so für dich sorgst und auf dich
achtest (das können nämlich viele Menschen heutzutage gar nicht
gut!). Kann ich dich dabei unterstützen herauszufinden, was du
willst und was du brauchst, damit es dir gut geht? Und dich dabei
begleiten, die passenden Bedingungen dafür zu finden?"
2. Menschen, die "keine Lust haben"
Hier
wäre folgende Reaktion angebracht: "Das Gefühl 'keine Lust'
ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass dir etwas fehlt. Es ist also
wichtig, herauszufinden, was das ist und ob es sich leicht beheben
lässt oder nicht. Es ist nämlich ein deutlicher Unterschied, ob es
ein momentanes, kurzfristiges oder ein tiefer gehendes, dauerhaftes
Keine-Lust-Haben ist." Wir können davon ausgehen, dass in den
allermeisten Fällen (bestimmt über 95 Prozent) es um ganz anderes
und viel mehr als das geht, was wir etwas leichtfertig und abfällig
als "keine Lust" bezeichnen.
Abgesehen
davon möchte ich Sie bitten, liebe Leserin, lieber Leser, einmal
ganz ehrlich sich selbst gegenüber die Frage zu beantworten: Wer
verspürt beim Gedanken an Schule wirklich Lust? Wer verspürt
Freude, Begeisterung? Die ganz entscheidende Frage ist hier
allerdings eine andere: Wie sehr glauben wir daran, dass "man
nunmal lernen muss, Dinge zu tun, auf die man keine Lust hat" –
egal, ob es uns oder anderen gut tut und nützt?
3. Menschen, die "viel Angst haben" und "nur dann eine Chance, wenn sich die Eltern und Lehrer richtig verhalten – und sich nicht zu Komplizen der Angst machen lassen"
Das
ist sehr interessant: Angst scheint hier als etwas verstanden zu
werden, das irgendwie böse und gefährlich ist und mit dem man sich
auf keinen Fall verbünden darf ... Vergessen wird dabei allerdings
eines: Angst ist ein lebens- sogar überlebenswichtiges Gefühl, ein
wichtiges Signal für uns, das wir nicht einfach so abstellen sollten
(wenn dies überhaupt geht, dann birgt es ein langfristig hohes
Risiko für die körperliche und seelische Gesundheit!). Es ist im
Artikel die Rede davon, dass "sie lernen ... die Angst
zu vertreiben, wenn sie wiederkommt".
Als wäre Angst irgend etwas Störendes, das einfach so daherkommt
ohne Sinn und Grund. Niemand käme auf die Idee, die Angst vertreiben
zu wollen, die auftaucht, wenn plötzlich ein Tiger vor ihm steht,
der seine Gesundheit oder sein Leben gefährden könnte. Nur wie
steht es mit den Dingen, die seine seelische und geistige Gesundheit
massiv gefährden, die grundlegende menschliche Bedürfnisse
missachten, die seine Integrität bedrohen? Angst scheint zudem eine
sich ausbreitende "Zivilisationskrankheit" zu sein, die uns
allen zu denken geben darf! Die angemessene Antwort wäre also hier:
"Deine Angst ist ein ganz wichtiger Kooperationspartner für
dich. Nun lass uns mal schauen, was er dir da Wichtiges mitteilen
will!"
4. Menschen, die in Familien leben, die "oft in Nöten" sind – in sozialen, finanziellen, gesundheitlichen Nöten
Wie
ist zu rechtfertigen, dass Menschen, die sowieso schon in Nöten
sind, noch mehr Leid zugefügt wird, indem sie nun stigmatisiert
werden? Die Praxis im Umgang mit Schulverweigerern zeigt, dass ihnen
nicht selten schlicht mit Drohungen und Strafen begegnet wird, was
meistens zu noch mehr sozialen, finanziellen und gesundheitlichen
Nöten führt.
5. "Viele gehören eher zu den Verlierern des Schulsystems ..."
Das
Schulsystem ist in sich und von Grund auf so beschaffen, dass
vorherbestimmt (und gewollt?) ist, dass es Verlierer geben wird
(geben muss). Unter allen 6-jährigen, die jährlich eingeschult
werden, steht schon von vornherein fest, dass ein Teil Verlierer sein
werden (egal ob der durchschnittliche Intelligenzquotient aller
6-jährigen bei 90 oder bei 110 liegt). Unser Schulsystem macht
Gewinner und Verlierer. Dabei wären vermutlich die meisten
Menschen, die "da drinnen" Verlierer sind, keine Verlierer,
wenn sie nicht "da drinnen" wären. Es könnte sich also
als klug erweisen, den Ort zu verlassen, an dem ich nur Verlierer
bin, und mir etwas anderes zu suchen, wo ich tatsächlich Chancen
habe ...
6. "Mehr als 30 Prozent sind sozial nicht gut integriert, 22 Prozent berichten, dass sie gemobbt werden"
Hier
möge ein Zitat aus einem ganz grundlegenden Artikel des
amerikanischen Psychologen PETER GRAY als Antwort dienen, dessen
Titel lautet Die grundlegendste aller Freiheiten ist die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu können*:
"Es ist schon viel gesagt worden über Mobbing in der Schule und andere Probleme, die mit Schule zusammenhängen, wie allgemeine Unzufriedenheit von Schülern, Langeweile und Zynismus. Bisher hat niemand einen Weg gefunden, diese Probleme zu lösen, und niemand wird einen solchen jemals finden, bis wir Kindern die Freiheit zugestehen wegzugehen. Um diese Probleme endlich und endgültig zu lösen, gibt es keine andere Möglichkeit, als den Zwang abzuschaffen.Wenn Kinder wirklich die Freiheit haben, sich von der Schule zu verabschieden, wird das Weiterbestehen der Schulen davon abhängen, dass sie zu kinderfreundlichen Orten werden. Kinder lieben es zu lernen, jedoch hassen sie es – wie wir alle! – gezwungen, penibel überwacht und andauernd bewertet zu werden. Sie lieben es, auf ihre eigene Weise zu lernen, nicht auf eine Art, die andere ihnen aufzwingen. Schulen werden – wie alle Institutionen – nur dann zu ethisch vertretbaren (Bildungs-)Einrichtungen werden, wenn die Menschen, denen sie dienen, nicht länger deren Häftlinge sind."
7. Menschen, die nicht so gut ihre Rechte verteidigen können
Dazu
heißt es im Artikel: "Kinder können nicht
argumentativ wie Erwachsene ihre Rechte verteidigen, wenn das Leben
sie überfordert. Ihre Möglichkeiten zu protestieren, sind sehr
begrenzt. Nicht zur Schule zu gehen ist eine dieser Möglichkeiten –
und eine der wirkungsvollsten."
Da
stellt sich nun die Frage: Wie gehen wir denn mit diesem Protest um?
Als wen oder was betrachten wir denn diejenigen, die protestieren?
Wenn
Menschen eher hilflos und weniger in der Lage sind, ihre Rechte zu
verteidigen, bedeutet das, dass sie deshalb rechtlos sind und keine
Rechte haben? Oder bedeutet es, dass sie umso mehr darauf angewiesen
sind, dass andere ihre Rechte achten und schützen? Sind Kinder
eigentlich auch Menschen? Dürfen diese Menschen eigentlich Nein
sagen?
Nein-Sagen-Können
ist die Voraussetzung für Gesundheit: Wer Nein sagen kann und darf,
muss nicht krank werden.
Liebe statt Angst?
Wer
durchgehalten hat, bis hierhin zu lesen, ohne die Zeitung an die Wand
zu pfeffern, möge sich noch einmal diese Aussagen zu Gemüte führen:
"Manche
Kinder müssen sich morgens vor der Schule übergeben oder haben
starke Bauchschmerzen" ... Wer will und kann dann schon hart
bleiben? Genau das müssten die Eltern aber eigentlich tun: Das Kind
in die Schule schicken ..."
Ist
das nicht Anstiftung zu Gewalt?
"Mit
den Eltern wird besprochen, wie wichtig es ist, die Verantwortung für
den Schulbesuch an ihr Kind zurückzugeben und ihm das Leben ohne
Schule möglichst unattraktiv zu machen."
Ist
dies Anstiftung zu Lieblosigkeit und dazu, sich gegen Menschen zu
stellen, die nichts nötiger haben, als dass jemand auf ihrer Seite
steht? Ist es nicht irgendwie zynisch, hier von "Verantwortung"
zu sprechen: wie kann jemand Verantwortung für etwas übernehmen,
wozu er nie gefragt wurde und wozu ihm keine Entscheidungsmöglichkeit
eingeräumt wird?
"Oberstes
Ziel ist, dass die Schüler wieder so schnell wie möglich in die
Schule gehen."
Oberstes
Ziel ist, dass wir Menschen als Menschen betrachten und sie in ihrer
Würde und Subjekthaftigkeit achten! Denn: "Wer sein Kind
liebt ..." – der liebt es!
_________________
Franziska Klinkigt
Diplom-Psychologin
Autorin des Buches Wer sein Kind liebt ... Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt (* in ebendiesem ist die Übersetzung des Artikels von Peter Gray enthalten)
Franziska Klinkigt
Diplom-Psychologin
Autorin des Buches Wer sein Kind liebt ... Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt (* in ebendiesem ist die Übersetzung des Artikels von Peter Gray enthalten)
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