Freitag, 12. Februar 2016

"Angst macht Schule": Leserbrief der Psychologin Franziska Klinkigt

Angst macht Schule?
Wollen wir nicht lieber Liebe statt Angst?

Stellen Sie sich einen lieben Menschen vor, dessen Wohl Ihnen am Herzen liegt: Ihre beste Freundin, Ihren besten Freund, Ihren Mann, Ihre Frau, Ihre Liebste, Ihren Liebsten, Ihren Bruder, Ihre Schwester, Ihre Mutter, Ihren Vater ... und sie oder er erzählte Ihnen Folgendes: "Meine Arbeit macht mir überhaupt keine Freude. Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, spüre ich nichts als Lustlosigkeit. Es fällt mir manchmal wirklich schwer, dafür aufzustehen und mich da hinzuschleppen." Was wäre Ihre Reaktion?
Stellen Sie sich vor, dieser liebe Mensch erzählte Ihnen dies: "Ich geh jeden Morgen mit Bauchschmerzen zur Arbeit. Sie macht mir so zu schaffen, dass ich vor Sorgen oft nachts nicht schlafen kann. Wenn ich morgens aufstehe, schnürt sich mir die Kehle zu. Manchmal ist mir so übel, dass ich sogar brechen muss." Was wäre Ihre Reaktion?
Stellen Sie sich vor, nach einer gewissen Zeit solcher Klagen, würde diese liebe Person sagen: "Ich halt es einfach nicht mehr aus, ich kann da nicht mehr hingehen – ich will da nicht mehr hingehen!" Was wäre Ihre Reaktion?
Wäre es etwas in diese Richtung: "Meine Güte, was ist da los mit deiner Arbeit(sstelle)?"?
Oder vielleicht so: "Ist das wirklich die richtige Arbeit(sstelle) für dich?"?
Oder würden Sie vielleicht dies raten: "Egal, wie dreckig es dir geht, du musst da unbedingt weiter hin!"?
Oder würden Sie so reagieren: "Du bist total krank und musst unbedingt in psychologische oder psychiatrische Behandlung!"?
Wirken die letzten beiden Reaktionen seltsam auf Sie oder erscheinen sie Ihnen ganz naheliegend? Wie würden Sie diesem lieben Menschen, der Ihnen wichtig ist, den Sie sehr lieben und schätzen, begegnen?
Nun stellen Sie sich bitte vor, dieser Mensch wäre unter 18 Jahre alt ...
* * *

Angst macht Schule?

Als ich am Sonntag den Artikel las "Angst macht Schule", empfand ich ein inneres Grausen angesichts der Botschaft und der Haltung Menschen gegenüber, die darin zum Ausdruck kommt. Falls Sie von dem Inhalt des Beitrags begeistert gewesen sein sollten, lesen Sie besser hier nicht weiter, denn es liegt mir fern, irgendjemanden überzeugen zu wollen. Allerdings möchte ich gern eine ganz andere Sichtweise teilen und einige Fragen stellen. Falls Sie dafür offen sind, lesen Sie gerne weiter ...
Was halten Sie von folgender Annahme? Wenn ein Mensch spürt, dass ihm etwas nicht gut tut, dass er mit etwas nicht glücklich ist, dass etwas ihn möglicherweise krank macht, dass er vielleicht gar Gewalt erlebt: Wäre es in Ihren Augen naheliegend und gesund, dass er sich davon abwendet? Wäre es vielleicht gar merkwürdig und ungesund zu beobachten, dass er sich nicht abwendet? Aus biologischer und psychologischer Sicht können beide Fragen eindeutig mit Ja beantwortet werden: Es ist gesund, Dinge zu vermeiden, die uns schaden und uns krank machen – oder auch einfach Dinge, die uns nicht nützlich und sinnvoll sind.
Wie kommt es also zu dieser im Artikel vorgestellten Sicht auf die sogenannte "Schulvermeidung"? Wieso wird hier davon gesprochen, dass Menschen "sich drücken" (was ja einen eindeutig negativen Beiklang hat: "Das darf man aber nicht!")? Wer sind denn die, die sich da "drücken"?

1. Menschen, die "mehr Belastung als andere tragen"

Da es ein Zeichen von Gesundheit, Kraft und Autonomie ist, sich selbst abzugrenzen und Nein zu sagen, wäre folgende Reaktion hier angebracht: "Gut, dass du so für dich sorgst und auf dich achtest (das können nämlich viele Menschen heutzutage gar nicht gut!). Kann ich dich dabei unterstützen herauszufinden, was du willst und was du brauchst, damit es dir gut geht? Und dich dabei begleiten, die passenden Bedingungen dafür zu finden?"

2. Menschen, die "keine Lust haben"

Hier wäre folgende Reaktion angebracht: "Das Gefühl 'keine Lust' ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass dir etwas fehlt. Es ist also wichtig, herauszufinden, was das ist und ob es sich leicht beheben lässt oder nicht. Es ist nämlich ein deutlicher Unterschied, ob es ein momentanes, kurzfristiges oder ein tiefer gehendes, dauerhaftes Keine-Lust-Haben ist." Wir können davon ausgehen, dass in den allermeisten Fällen (bestimmt über 95 Prozent) es um ganz anderes und viel mehr als das geht, was wir etwas leichtfertig und abfällig als "keine Lust" bezeichnen.
Abgesehen davon möchte ich Sie bitten, liebe Leserin, lieber Leser, einmal ganz ehrlich sich selbst gegenüber die Frage zu beantworten: Wer verspürt beim Gedanken an Schule wirklich Lust? Wer verspürt Freude, Begeisterung? Die ganz entscheidende Frage ist hier allerdings eine andere: Wie sehr glauben wir daran, dass "man nunmal lernen muss, Dinge zu tun, auf die man keine Lust hat" – egal, ob es uns oder anderen gut tut und nützt?

3. Menschen, die "viel Angst haben" und "nur dann eine Chance, wenn sich die Eltern und Lehrer richtig verhalten – und sich nicht zu Komplizen der Angst machen lassen"

Das ist sehr interessant: Angst scheint hier als etwas verstanden zu werden, das irgendwie böse und gefährlich ist und mit dem man sich auf keinen Fall verbünden darf ... Vergessen wird dabei allerdings eines: Angst ist ein lebens- sogar überlebenswichtiges Gefühl, ein wichtiges Signal für uns, das wir nicht einfach so abstellen sollten (wenn dies überhaupt geht, dann birgt es ein langfristig hohes Risiko für die körperliche und seelische Gesundheit!). Es ist im Artikel die Rede davon, dass "sie lernen ... die Angst zu vertreiben, wenn sie wiederkommt". Als wäre Angst irgend etwas Störendes, das einfach so daherkommt ohne Sinn und Grund. Niemand käme auf die Idee, die Angst vertreiben zu wollen, die auftaucht, wenn plötzlich ein Tiger vor ihm steht, der seine Gesundheit oder sein Leben gefährden könnte. Nur wie steht es mit den Dingen, die seine seelische und geistige Gesundheit massiv gefährden, die grundlegende menschliche Bedürfnisse missachten, die seine Integrität bedrohen? Angst scheint zudem eine sich ausbreitende "Zivilisationskrankheit" zu sein, die uns allen zu denken geben darf! Die angemessene Antwort wäre also hier: "Deine Angst ist ein ganz wichtiger Kooperationspartner für dich. Nun lass uns mal schauen, was er dir da Wichtiges mitteilen will!"

4. Menschen, die in Familien leben, die "oft in Nöten" sind – in sozialen, finanziellen, gesundheitlichen Nöten

Wie ist zu rechtfertigen, dass Menschen, die sowieso schon in Nöten sind, noch mehr Leid zugefügt wird, indem sie nun stigmatisiert werden? Die Praxis im Umgang mit Schulverweigerern zeigt, dass ihnen nicht selten schlicht mit Drohungen und Strafen begegnet wird, was meistens zu noch mehr sozialen, finanziellen und gesundheitlichen Nöten führt.

5. "Viele gehören eher zu den Verlierern des Schulsystems ..."

Das Schulsystem ist in sich und von Grund auf so beschaffen, dass vorherbestimmt (und gewollt?) ist, dass es Verlierer geben wird (geben muss). Unter allen 6-jährigen, die jährlich eingeschult werden, steht schon von vornherein fest, dass ein Teil Verlierer sein werden (egal ob der durchschnittliche Intelligenzquotient aller 6-jährigen bei 90 oder bei 110 liegt). Unser Schulsystem macht Gewinner und Verlierer. Dabei wären vermutlich die meisten Menschen, die "da drinnen" Verlierer sind, keine Verlierer, wenn sie nicht "da drinnen" wären. Es könnte sich also als klug erweisen, den Ort zu verlassen, an dem ich nur Verlierer bin, und mir etwas anderes zu suchen, wo ich tatsächlich Chancen habe ...

6. "Mehr als 30 Prozent sind sozial nicht gut integriert, 22 Prozent berichten, dass sie gemobbt werden"

Hier möge ein Zitat aus einem ganz grundlegenden Artikel des amerikanischen Psychologen PETER GRAY als Antwort dienen, dessen Titel lautet Die grundlegendste aller Freiheiten ist die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu können*:
"Es ist schon viel gesagt worden über Mobbing in der Schule und andere Probleme, die mit Schule zusammenhängen, wie allgemeine Unzufriedenheit von Schülern, Langeweile und Zynismus. Bisher hat niemand einen Weg gefunden, diese Probleme zu lösen, und niemand wird einen solchen jemals finden, bis wir Kindern die Freiheit zugestehen wegzugehen. Um diese Probleme endlich und endgültig zu lösen, gibt es keine andere Möglichkeit, als den Zwang abzuschaffen.
Wenn Kinder wirklich die Freiheit haben, sich von der Schule zu verabschieden, wird das Weiterbestehen der Schulen davon abhängen, dass sie zu kinderfreundlichen Orten werden. Kinder lieben es zu lernen, jedoch hassen sie es – wie wir alle! – gezwungen, penibel überwacht und andauernd bewertet zu werden. Sie lieben es, auf ihre eigene Weise zu lernen, nicht auf eine Art, die andere ihnen aufzwingen. Schulen werden – wie alle Institutionen – nur dann zu ethisch vertretbaren (Bildungs-)Einrichtungen werden, wenn die Menschen, denen sie dienen, nicht länger deren Häftlinge sind."

7. Menschen, die nicht so gut ihre Rechte verteidigen können

Dazu heißt es im Artikel: "Kinder können nicht argumentativ wie Erwachsene ihre Rechte verteidigen, wenn das Leben sie überfordert. Ihre Möglichkeiten zu protestieren, sind sehr begrenzt. Nicht zur Schule zu gehen ist eine dieser Möglichkeiten – und eine der wirkungsvollsten."
Da stellt sich nun die Frage: Wie gehen wir denn mit diesem Protest um? Als wen oder was betrachten wir denn diejenigen, die protestieren?
Wenn Menschen eher hilflos und weniger in der Lage sind, ihre Rechte zu verteidigen, bedeutet das, dass sie deshalb rechtlos sind und keine Rechte haben? Oder bedeutet es, dass sie umso mehr darauf angewiesen sind, dass andere ihre Rechte achten und schützen? Sind Kinder eigentlich auch Menschen? Dürfen diese Menschen eigentlich Nein sagen?
Nein-Sagen-Können ist die Voraussetzung für Gesundheit: Wer Nein sagen kann und darf, muss nicht krank werden.

Liebe statt Angst?

Wer durchgehalten hat, bis hierhin zu lesen, ohne die Zeitung an die Wand zu pfeffern, möge sich noch einmal diese Aussagen zu Gemüte führen:
"Manche Kinder müssen sich morgens vor der Schule übergeben oder haben starke Bauchschmerzen" ... Wer will und kann dann schon hart bleiben? Genau das müssten die Eltern aber eigentlich tun: Das Kind in die Schule schicken ..."
Ist das nicht Anstiftung zu Gewalt?
"Mit den Eltern wird besprochen, wie wichtig es ist, die Verantwortung für den Schulbesuch an ihr Kind zurückzugeben und ihm das Leben ohne Schule möglichst unattraktiv zu machen."
Ist dies Anstiftung zu Lieblosigkeit und dazu, sich gegen Menschen zu stellen, die nichts nötiger haben, als dass jemand auf ihrer Seite steht? Ist es nicht irgendwie zynisch, hier von "Verantwortung" zu sprechen: wie kann jemand Verantwortung für etwas übernehmen, wozu er nie gefragt wurde und wozu ihm keine Entscheidungsmöglichkeit eingeräumt wird?
"Oberstes Ziel ist, dass die Schüler wieder so schnell wie möglich in die Schule gehen."
Oberstes Ziel ist, dass wir Menschen als Menschen betrachten und sie in ihrer Würde und Subjekthaftigkeit achten! Denn: "Wer sein Kind liebt ..." der liebt es!
_________________
Franziska Klinkigt
Diplom-Psychologin
Autorin des Buches
Wer sein Kind liebt ... Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt (* in ebendiesem ist die Übersetzung des Artikels von Peter Gray enthalten)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen